Ostdeutsche Leben

In Politik, Justiz, Verwaltung und Wirtschaft sind Menschen mit ostdeutscher Biographie in den Spitzenpositionen stark unterrepräsentiert. Viele Menschen aus dem Osten fühlen sich benachteiligt und zurückgesetzt. Ein Teil dieses Gefühls rührt aus der Entwertung ihrer Biographien, die viele Menschen in den Jahren nach der Wende erfahren haben.

Kölner Kongress 2019, Deutschlandfunk

30 Jahre nach der Wiedervereinigung gehen Autorinnen und Filmemacher neue Wege, um von der DDR zu erzählen und eine spezifisch ostdeutsche Perspektive auf die Geschichte beizutragen. In der Reihe „ostdeutsche Leben“ des Deutschlandfunks durfte ich bisher drei Feature beitragen. Ein weiteres über die bis heute nachwirkenden „Altschulden“, die auf Wohnungen, Wohnungsbaugesellschaften und Mietern im Osten lasten, ist in Vorbereitung.

An der pädagogischen Front
Ostdeutsche Lehrer in den Umbrüchen der Wende

Feature von Holger Siemann, 2019
Ursendung am 24.9.2019, 19:15 Uhr auf Deutschlandfunk

45 Minuten Feature (42Mb)

Jutta Hoffmann stieg von der DDR-Schulleiterin zur Hauptschullehrerin ab. Siglinde Schaub klagte gegen den Rausschmiss aus dem Direktorenamt und landete im Berliner Abgeordnetenhaus. Alexander Lubawinski fand sich nach der Wende als Vorgesetzter der beiden Kolleginnen wieder.
Alle drei sind überzeugte Pädagogen geblieben. Ihre Vorwendeerfahrungen haben ihnen geholfen, die Umbrüche ihres Lebens zu meistern. Mit einer gewissen Genugtuung stellen sie fest, dass das deutsche Bildungswesen 30 Jahre später wieder an Punkte gelangt, die die DDR-Pädagogen verlassen mussten: die Gemeinschaftsschule. Das Fach ‚Praktische Arbeit‘. Die frühkindliche Bildung.
Siglinde Schaub und Alexander Lubawinski haben im politischen Raum dafür gekämpft. Und Jutta Hoffmann in der Schule, die ihr kein Burn-out bescherte. Im Gegenteil, sie war der Ort, eine private Katastrophe zu verarbeiten.

mit Jutta Hoffmann, Siglinde Schaub und Alexander Lubawinski

Juttas Klasse 1977

Licht am Ende von Tunnel B

Feature von Holger Siemann, 2019
Regie: Anna Panknin

50 Minuten Feature, 62 Mb

1988 war Kirsten Münch 20 Jahre alt und erzählte in dem DEFA-Dokfilm „Tunnel B“ über das Kombinat Mikroelektronik Erfurt von ihrer Arbeit und ihrer Schwangerschaft. 30 Jahre später machen wir sie ausfindig und fragen, was aus ihr und ihrem Kind geworden ist.
Zur gleichen Zeit versuchte Hans-Jürgen Straub in der Kombinatsleitung moderne Methoden der Planung einzuführen. Im Zusammenbruch sah er vor allem die Chance. Er rettete, was zu retten war, zerschlug, entließ, verschlankte, besorgte Kredite. Heute blickt er mit Stolz auf XFab und sein Lebenswerk zurück.
Frau Lenkert wurde vom Zusammenbruch des Sozialismus überrascht, doch für Trauer oder Angst blieb keine Zeit. Als Hauptbuchhalterin ordnete sie den Untergang der DDR-Mikroelektronik, erstellte Abschlussbilanzen und verwaltete Schulden, bis der letzte Aktencontainer nach Berlin und sie selbst in den Vorruhestand ging

Die sieben Leben der Margarethenhütte

eine ostdeutsche Industriegeschichte

Regie: Claudia Kattanek
Es sprachen: Kathrin Baumhöfer, Gregor Höppner und Jodokus Krämer
Ton und Technik: Christoph Bette
Redaktion: Wolfgang Schiller
Produktion: Deutschlandfunk 2020

44 Minuten Feature, 60 Mb

Zu DDR Zeiten waren die Isolatoren aus der Margarethenhütte, dem VEB Elektroporzellan Großdubrau, ein devisenbringender Exportschlager. Die Mitarbeiter waren sicher, sie würden von der Wende profitieren. Um so tiefer saß der Schock, als das Aus kam. Demonstrationen, Werksbesetzungen, Protestfahrten nach Bonn – nichts half.

20 Jahre später skandalisierte die sächsische Staatsministerin Petra Köpping die Geschichte. Ein Käufer aus dem Westen habe die Fabrik für eine Mark von der Treuhand gekauft und die Maschinen bei Nacht und Nebel abtransportieren lassen. Nichts davon stimmt. Detlef Scheunert, der einzige Ostler unter den Treuhanddirektoren meint: Die Abwicklung war alternativlos, und die Skandalisierung hilft nur denen, die einen Sündenbock suchen.

Die Menschen in Großdubrau gründeten einen Verein – zuerst in der Hoffnung, ihre Fabrik zu retten, später um zu bewahren, was nach der Abwicklung davon übrig war. Sie bauten ein Museum auf, das an Schinderei, Alltag und das manchmal komische Heldentum der Planerfüllung erinnert. 30 Jahre nach der Schließung versuchen sie, ihre stummen Kollegen zum Reden zu bringen, zum Erinnern, zum Erzählen, denn sie wissen: Ohne Geschichten ist die Geschichte weg, und das Leben, als wäre es nie gewesen.


weitere Feature in der Reihe „ostdeutsche Leben“


Kinderreich
Von Simone Trieder

Regie: Claudia Kattanek
Es sprach: Claudia Mischke
Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Katharina Lueg
Redaktion: Ulrike Bajohr
Produktion: Dlf 2019

Link zur Webseite und zum Audio

Die DDR nannte sich gern ein „kinderfreundliches Land“. In den Kommunen gab es Referate für Kinderreiche, die regelmäßig über das Ergehen „ihrer“ Großfamilien nach oben zu berichten hatten. Vater und Mutter Heine erwarteten von der Außenwelt vor allem zweierlei: eine geräumige Wohnung – und von den Nachbarn nicht als „asozial“ abgestempelt zu werden. Für alles andere standen sie selbst ein. Alle Kinder haben einen Beruf gelernt. Dirk, Sohn Nummer sechs, machte Abitur – und sollte dafür Berufsoffizier werden. Dirk war auch Ulbrichts „Patensohn“. Er bekam eine schöne Urkunde, 100 Mark auf ein Sperrkonto und ein „Epapa“ – ein Ehrenschaftspatenpaket – mit Bettwäsche und fünf Strumpfhosen.


Ruth. Robert. René
Eine Ostberliner Künstlerfamilie
Von Ulrike Bajohr

Regie: Fabian von Freier
Es sprachen: Wolf Aniol und die Autorin
Ton und Technik: Ernst Hartmann und Jens Müller
Redaktion: Tina Klopp

Produktion: Dlf 2019

Link zur Webseite und zum Audio

Ruth, René und Robert wollen gute Staatsbürger sein. Und frei in dem, was sie tun. Robert Rehfeldt starb, ehe er daheim Anerkennung fand. Draußen, in der Kunstwelt, war er mit seiner Mail Art längst berühmt. René Rehfeldt lernte bei seinem Vater die grafischen Techniken. Er leitet heute die Druckwerkstatt an der Universität der Künste Berlin. Es ist die Hochschule, an der Robert Anfang der 50er-Jahre studierte, bevor er in den Osten der Stadt ging – weil ein Künstler im Westen noch schlechter lebte. Im Osten traf er Ruth Wolf, schön, still und eigensinnig. Sie hütete das Kind, assistierte dem Mann, verdiente da und dort etwas dazu, malte – und kreiierte die ‚typewritings‘. 2017 fand sie sich mit ihrer Schreibmaschinenkunst auf der documenta wieder. 27 Jahre, nachdem sie damit aufgehört hatte. Niemand hatte mehr an ihren Durchbruch geglaubt, am wenigsten sie selbst.


und hier noch meine Lieblingsgeschichte in der Reihe: Liebe in Zeiten der Schichtarbeit

Liebe in Zeiten der Schichtarbeit
Von Marcel Raabe und Manuel Waltz

Regie: Matthias Kapohl
Es sprachen: Aischa Lina Löbbert, Gustav Schmidt und Sören Wunderlich
Ton und Technik: Hendrik Manook und Oliver Dannert
Redaktion: Ulrike Bajohr

Produktion: Deutschlandfunk 2019,

Link zur Webseite und zum Audio

Etwa ein Jahr lang, 1988/89, versucht ein junges Paar – werdende Eltern – über das Heft nicht nur Kontakt zu halten, sondern im asynchronen Takt der Schichtarbeit eine Beziehung zu führen.
Oft finden die Liebenden einander nur schlafend vor.
Bald danach rauscht die Geschichte über den Stadtteil hinweg: Mauerfall, Kollaps der Industrie, Wegzug der Arbeiter, kurz ein bisschen Anarchie auf den Trümmern der DDR. 30 Jahre später gilt der Leipziger Westen immer noch als Paradies für Lebenskünstler, obwohl auch hier die Mieten in die Höhe schießen.
Während sich die Autoren fragen, wie sie mit dem Notizheft umgehen sollen – ob eine Veröffentlichung ein unzulässig intimer Einblick in das Privatleben zweier Unbekannter oder ein Zeitdokument ist – kommt ihnen ein Zufall zu Hilfe: Der erwachsene Sohn des Paares taucht auf, und damit auch seine Mutter.