Der blaue Prinz

Feature von Holger Siemann über eine Reise nach Marokko

Deutschlandsender Kultur 1992

1990, gleich nach der Währungsunion, eröffnete in der Prenzlauer Allee, direkt gegenüber von dem Haus, in dem ich wohnte, ein Reisebüro. Großformatige Plakate zeigten fremde Welten mit Palmen, weißen Stränden und Wolkenkratzern. Besonders angetan hatte es mir allerdings das Plakat von Casablanca, denn ich liebte den Film mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann, seit ich ihn in einem Programmkino im sächsischen Löbau gesehen hatte, damals noch in NVA-Uniform und von der Ferne träumend.

1991 machte das üppige Preisgeld eines Drehbuchwettbewerb des Filmfonds Hamburg meine Reise möglich, ich buchte einen Flug nach Agadir im Süden Marokkos und fuhr einen Monat lang mit Bussen kreuz und quer durchs Land, natürlich auch nach Casablanca. Die Wirklichkeit sah deutlich anders aus als auf den Reisebüroplakaten und auch sehr anders als in den Broschüren des Solidaritätskommittees der DDR über die „Befreiungsfront Polisario“ im Süden Marokkos. Ich sah Elend und Korruption und wurde nicht etwa als solidarischer Ossi, sondern als reicher Wessi wahrgenommen. Das, meinte ich, müsse die Welt erfahren, und schrieb meine Erlebnisse auf.

Erst sehr viel später erfuhr ich, dass der Deutschlandsender Kultur (ein nicht alzu langlebiger Sender in Nachfolge des DDR-Rundfunks, der später im Deutschlandradio aufging) mein Manuskript nicht deshalb angenommen hatte, weil sonst noch niemand in Marokko gewesen wäre, sondern weil ich mich so exzeptionell naiv und blöd angestellt und echauffiert hatte.

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Der blaue Prinz, 52 Minuten