Gustav und Clara Seelig wohnten bis 1943 in Berlin, in der Kopenhagener Straße Nummer 11; heute ist das die linke Hälfte des Kinderspielplatzes. Die Haustür öffnete sich an der Stelle, wo heute das Gittertor ist.
1904 war im Adressbuch unter der Nummer 11 noch ein Kohlenplatz verzeichnet, 1905 steht das Haus, 1907 taucht Gustav Seelig zum ersten Mal auf, als Inhaber einer „Rester- und Partiewr.hdlg.“, da ist er 29 Jahre alt und seit einem Jahr verheiratet mit Clara Seelig, geb. Gellert. 1914, bei Ausbruch des 1.Weltkriegs, muss er ins Feld – am 5.August, als einer der Ersten und vermutlich – wie zu Kriegsbeginn üblich – unter begeisterter Anteilnahme der Nachbarn. Er bleibt in Uniform bis zum bitteren Ende des Krieges, seine Frau führt derweil das Geschäft allein, seit 1917 unter dem klingenden Namen „Kaufhaus“.
Die Seeligs müssen gut gewirtschaftet haben, jedenfalls besitzen sie bald zwei Kaufhaus-Filialen und erwerben 1923 das Haus, in dem sie wohnen. Nun führt Gustav Seelig die Namensliste der „Kopenhagener Straße 11“ im Adressbuch an, versehen mit einem fetten E für „Eigentümer“ und einem T, für „Telefon“, man erreicht ihn über die Nummer Humboldt 554. Eine Tochter wird geboren, die er Herta nennt.
Die Machtergreifung der Nazis 1933 bewegt ihn zunächst nicht zur Flucht. Vielleicht glaubt er – wie viele andere – nicht an die Gefahr oder er fühlt sich geschützt – erheben die Nazis doch Weltkriegshelden zu Halbgöttern und fügen für solche „jüdischer Abstammung“ sogar Ausnahmeparagraphen in ihre Rassegesetze ein. Im August 1935 wird er drei Wochen in Haft genommen, derweil Nachbarn seinen Laden in der Kopenhagener plündern. Anfang 1938 verkauft Gustav Seelig die Läden schließlich zum Schleuderpreis, am 14. November wird er 60 Jahre alt. Jetzt will er weg. Laut Empfangsschein Nr. 216393 zahlt er 1939 den Betrag von 493 Reichsmark Passagegeld bei einer Hamburger Reederei ein. Seine Tochter Herta, die Herbert Noah geheiratet hat und bereits nach Bolivien ausgewandert ist, wartet jedoch vergeblich auf die Eltern. Der Kriegsausbruch kommt dazwischen.
Von Ende 1941 an muss Gustav Seelig für 35 Reichsmark Wochenlohn bei Siemens-Schuckert Zwangsarbeit als Maschinenarbeiter verrichten. Die meisten seiner jüdischen Bekannten und Verwandten werden deportiert, nur Frontkämpfer und „arisch Versippte“ dürfen bleiben. Am 2. März 1943 wird er im Rahmen der „Fabrikaktion“ am Arbeitsplatz verhaftet. Clara Seelig stellt sich freiwillig, um mit ihm zusammen sein zu können. Das Ehepaar wird am 4. März 1943 mit dem 34. Transportzug von Berlin nach Auschwitz deportiert. Am 6. März 1943 kommen mit diesem Transport 1405 jüdische Männer, Frauen und Kinder dort an. Nach der Selektion werden 406 Männer und 190 Frauen als Häftlinge ins Lager geschickt, die übrigen 809 Personen sofort in der Gaskammer umgebracht, auch Clara Seelig. Gustav Seelig erhält die Häftlingsnummer 106786 eintätowiert und wird zur Zwangsarbeit nach Buna gebracht. Am 29. März 1943 bricht er sich ein Bein und wird vom Häftlingskrankenbau Buna zurück ins Stammlager Auschwitz überwiesen.
S 2/He GEHEIME REICHSSACHE
Betr.: Aufbau einer Sammlung von Skeletten.
Unter Bezugnahme auf dortiges Schreiben vom 25.9.1942 IV B 4 3576/42 g 1488 und die zwischenzeitlich in obiger Angelegenheit geführten persönlichen Besprechungen wird mitgeteilt, dass der mit der Ausführung obigen Sonderauftrages beauftragte Mitarbeiter der hiesigen Dienststelle, SS-Hauptsturmführer Dr. Bruno Beger, die Arbeiten am 15.6.1943 im KL Auschwitz wegen der bestehenden Seuchengefahr beendet hat.
Insgesamt wurden 115 Personen, davon 79 Juden, 2 Polen, 4 Innerasiaten und 30 Jüdinnen bearbeitet. Diese Häftlinge sind z.Zt. getrennt nach Männern und Frauen in je einem Krankenbau des KL. Auschwitz untergebracht und befinden sich in Quarantäne.
Zur weiteren Bearbeitung der ausgesuchten Personen ist nunmehr eine sofortige Überweisung an das KL Natzweiler erforderlich, was mit Rücksicht auf die Seuchengefahr in Auschwitz beschleunigt durchgeführt werden müsste. Ein namentliches Verzeichnis der ausgesuchten Personen ist beigefügt.
Es wird gebeten, die entsprechenden Anweisungen zu erteilen.
Da bei der Überweisung der Häftlinge nach Natzweiler die Gefahr der Seucheneinschleppung besteht, wird gebeten, umgehend zu veranlassen, dass seuchenfreie und saubere Häftlingskleidung für 80 Männer und 30 Frauen von Natzweiler nach Auschwitz gesandt wird.
Gleichzeitig müsste dafür Sorge getragen werden, für die 30 Frauen kurzfristig im KL. Natzweiler Unterbringungsmöglichkeit zu schaffen.
Sievers, SS-Standartenführer
Zwischen dem 6. und dem 11. Juni treffen drei Männer in Auschwitz ein, Rassekundler in SS-Uniform, nämlich Bruno Beger, Wilhelm Gabel und Hans Fleischhacker, Sie suchen bei ihren Rundgängen durch das Lager typische Beispiele jüdischer Physiognomien, um die Schädel und Skelette später in einem Museum der Organisation „Ahnenerbe“ einer judenfreien Nachwelt zu präsentieren.
„Mir ist in Erinnerung“, so Beger, „dass ich, als ich erstmals in meinem Leben im KL Auschwitz einer größeren Gruppe von Juden gegenüberstand, von der anthropologischen Vielgestaltigkeit überrascht war.“ Sie formen Schädel ab, vermessen Glieder und werden später behaupten, nicht gewusst zu haben, dass die Auserwählten dem Tode geweiht sind.
Nach einer mehrwöchigen Quarantäne gehen am 30. Juli 1943 knapp hundert Häftlinge auf Transport ins KZ Natzweiler-Struthof, wo bereits die Gaskammern vorbereitet sind. Am 17. oder 19. August 1943 wird Gustav Seelig als einer von 86 Juden ermordet.
Die Namen der Nummern
Das SS-Ahnenerbe, die Verbrechen und Biografien der Täter sind in mehreren Prozessen und von Historikern untersucht worden (weiterführende Informationen und Literatur zum Beispiel auf Wikipedia). Die Opfer jedoch existierten in der öffentlichen Wahrnehmung bis in die 90iger Jahre nur in Form eines kleinen Zettels mit den auf die Unterarme tätowierten Häftlingsmummern. Es ist das Verdienst des Tübinger Historikers Hans-Joachim Lang, ihnen Namen gegeben zu haben:
Erinnerung an 86 jüdische Opfer eines Verbrechens von NS-Wissenschaftlern
Ein Projekt von Hans-Joachim Lang
Die Leichen werden in die Reichsuniversität Strassburg gebracht und dort in der Anatomie des SS-Hauptsturmführers Professor Hirt in Behältern gelagert, weil der Vormarsch der Amerikanischen Streitkräfte die Museumspläne des Ahnenerbes verzögert. Die Mörder geraten in Panik. Hirt lässt das Zahngold herausbrechen, die Köpfe abtrennen und im Krematorium der Stadt verbrennen, die Innereien entfernen und die Körper – bis auf 13 – in vier Teile zerlegen. In diesem Zustand finden die Alliierten die Leichen am 23. November 1944. Drei Wochen danach beginnt die französische Militärjustiz mit ihren Nachforschungen. Ihr gelingt es in mühevollen Ermittlungen, den Tatort und die ungefähren Umstände des Verbrechens herauszufinden.
Der Sturm der Entrüstung in der Presse v.a. Großbritanniens ist so groß, dass das Deutsche Außenministerium bei Hirt nachfragt. Er behauptet, von nichts zu wissen. Ende 1944 mahnen die Berliner Gaswerke eine offene Rechnung des Gustav Seelig in Höhe von 16 Reichsmark an. Das Wohnhaus Kopenhagener Straße 11 wird bei den Straßenkämpfen Ende April mehrfach von Granaten getroffen und brennt aus.
Zu einer Obduktion der Leichen und Leichenteile, die im Anatomie-Keller verblieben waren, kommt es im Juli 1945 bei der Vorbereitung des Nürnberger Ärzteprozesses. Dabei finden die französischen Gerichtsärzte noch an 13 Leichen und an drei Leichenteilen die Tätowierungen aus Auschwitz und geben die Nummern zu Protokoll.
les noms du 86
Die französischen Filmemacher Emmanuel Heyd und Raphael Toledano haben einen Film über das Projekt von Hans-Joachim Lang gedreht, den man auf der Projektseite auch streamen kann (auf Französisch oder Englisch – wobei letzteres „Französisch mit englischen Untertiteln“ bedeutet)
August Hirt tötet sich am 2. Juni 1945 in der Gegend von Schluchsee mit einem Schuss in den Kopf selbst. Bruno Beger und Hans Fleischhacker stehen erst 1970 vor Gericht, angeklagt wegen Beihilfe zum Mord. Das Landgericht in Frankfurt am Main spricht Fleischhacker frei; er kann seine wissenschaftliche Arbeit an der dortigen Universität fortsetzen. Beger verurteilen die Richter wegen Beihilfe zu 86fachem Mord zur Mindeststrafe von drei Jahren. Ihm werden die Internierung nach dem Krieg und die Untersuchungshaft angerechnet und der Strafrest wegen guter »Lebensführung« erlassen.
Nach dem Krieg werden die Trümmer des Hauses Kopenhagener 11 abgeräumt. In den 60iger Jahren betreibt die Tochter von Gustav und Clara Seelig ein Restitutionsverfahren. Das zuständige Berliner Amt erteilt den Bescheid „Der Verlust des Geschäftes kann nicht entschädigt werden, da das Geschäft verkauft worden ist.“ Das Grundstück in der Kopenhagener Straße 11 wird 1962 enteignet und in Volkseigentum überführt, seit der Wende ist es im Besitz des Landes Berlin.
weitere biografische Angabe zur Familie Seelig finden sich ua. auf der Stolperstein-Seite Berlin und auf der Webseite „Die Namen der Nummern„