Wir sind alle was Eigenes

Feature von Holger Siemann über die russisch-jüdische Familie Kaufmann aus Leipzig, MDR 2000

Fast jeder in Leipzig hat schon von der jüdischen Familie Kaufmann aus Rußland gehört. Die Zeitungen berichten gern über dieses Beispiel geglückter Integration. Wir auch

Produktionsteam

Regie: Christa Kowalski

Redaktion: Maria Schüler


Drei Generationen der Familie Kaufmann wohnen am Roßplatz in Leipzig in einer Dreizimmerwohnung: Das Ehepaar Küf und Mascha, die Mutter Küfs, Edith, und die Tochter Katja. Die Athmosphäre in der Küche der Kaufmanns, zwischen Tellerklappern und gemeinsamem Singen, ist außerordentlich herzlich und im wahrsten Sinne des Wortes herzerwärmend. Der Gesang klingt harmonisch, aber am Ende sind ihre Stimmen nicht im Gleichklang; „Wir sind eben alle Individualisten, wir sind alle ein was“, ruft Küf und seine Tochter korrigiert “Wir sind alle was Eigenes.“ Hier sind intelligente Menschen beisammen, die sich anregen und die wissen, was sie aneinander haben.
Die Familie stammt aus Petersburg, wo Küf Kaufmann als Regisseur und Mascha als Tänzerin in der Music-Hall bis 1990 zur Bohème der Stadt gehörten. Weggegangen sind sie wegen der Aussichtslosigkeit der Situation in Rußland, vor allem aber wegen antisemitischer Flugblätter, Drohbriefe und Losungen auf den Häuserwänden.
Küf hat ein Café eröffnet, das sein „Theater“ ist und in dem er Multikultur inszeniert: Tante Berta aus Sibirien macht die Pelmeni mit der Hand, ein Koch aus Japan veranstaltet Sushi-Wochen und an den Montagen finden Tangoabende statt. Für den Verein „Netzwerk Ältere Frauen Sachsen e.V.“ inszeniert er eine Senioren-Revue, bei der Mascha für die Choreographie zuständig ist. Mascha leitet außerdem ehrenamtlich eine Tanzgruppe für junge Leute und hilft russischen Mädchen im Asylverfahren.
Die Mutter Edith führt den Haushalt und verwöhnt die Familie mit russischen Lieblingsgerichten. Weil sie sehbehindert ist und kein deutsch spricht, keine Zeitungen lesen kann und im Fernsehen wenig versteht, erschließt sie sich Leipzig auf ihre eigene Weise: Auf langen Spaziergängen. Sie hat russische Freundinnen, mit denen sie sich auf Straßen, Plätzen oder in ihren Lieblingspassagen trifft und manchmal stundenlang über Gott und die Welt diskutiert.
In all den Jahren der Bedrohung, Auswanderung und der Fremdheitserfahrungen hat die Familie zusammengehalten und jedem Einzelnen Schutz geboten. Nun, da die Kinder erwachsen werden und jedes der Familienmitglieder neue Orte des Arbeitens und der Geborgenheit für sich entdeckt oder erobert, läßt diese Bedeutung der Familie langsam nach, eine Art deutscher Normalität macht sich breit.

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